Singen ist eine der ältesten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Die
Wirkungen des Musizierens mit der eigenen Stimme auf Körper, Geist und
Seele beschäftigen die Wissenschafter aber erst in jüngster Zeit. Was
sie ans Licht bringen, führt unweigerlich zu dem Schluss: Regelmäßiges
Singen ist so gesund, dass es eigentlich ärztlich verordnet werden
sollte. Lesen Sie, warum Gesang so sinnvoll und lustvoll ist – und
singen Sie!
Von Mag. Karin Kirschbichler
Montags, nach der Chorprobe in einem Vereinslokal in Wien: Es herrscht ein quirliges Durcheinander, da und dort summt noch jemand eine Melodie. Zwei Stunden lang haben die 20 begeisterten Chorsängerinnen und -sänger ihre Stimmen erhoben. Alle 20 sind über 50 – und wirken so frisch und fröhlich, dass es eine Freude ist. Die Älteste im Sängerbunde ist 82! Man sieht es ihr nicht an: „Das Singen hält mich in Schwung“, lacht sie. „Seit ich singe, bin ich viel ausgeglichener, mehr im Einklang mit mir selbst“, erzählt eine andere. „Wenn ich singe, sind die Zipperleins, die das Älterwerden so mit sich bringt, wie weggeblasen“, freut sich eine Dritte. „Nachdem meine Frau gestorben ist“, sagt einer der wenigen Herren im Raum, „war ich oft sehr allein. Dann habe ich mich diesem Chor angeschlossen. Einsamkeit und Trübsalblasen sind für mich Fremdwörter geworden, das gemeinsame Singen tut mir richtig gut!“ Und einstimmig bekennen die Chorsänger: „Singen macht einfach Spaß!“ Freude ist die sichtbarste Nebenwirkung des Singens. Doch Gesang kann noch viel mehr: Singen ist Medizin – mit vielen erwünschten und keinen unerwünschten Nebenwirkungen. Schon seit einigen Jahren wird es im therapeutischen und klinischen Bereich angewandt. Man denke nur an Alzheimer-Patienten, die über ein ihnen bekanntes Lied plötzlich wieder Zugang zu verloren geglaubten Erinnerungen bekommen. Oder an Schlaganfall-Patienten, die über den Gesang zum Sprechen zurückfinden. Was den wenigsten bewusst ist: Singen ist Vorsorgemedizin, hilft bei der Gesunderhaltung von Körper, Geist und Seele.
Foto: Ivana Cajina/unsplash.com
Regelmäßiges Singen
Das ist beachtlich. Wie geht das? Im Wesentlichen muss man dazu nur A und B sagen, nämlich Atmung und Balance.
Singen ist Atmen
Genauer genommen: Singen ist gestaltetes Atmen, sagt Univ. Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid (siehe Interview). Wer singt, verlängert die Zeit des Ausatmens (damit der Ton gehalten werden kann) und variiert die Zeit des Einatmens (je nachdem, ob ein schnelles oder langsames Stück gesungen wird). Wer singt, benützt automatisch die gesunde Bauch-Flanken- bzw. Tiefatmung statt der Brust- bzw. Hochatmung. Und da tut sich einiges: Wenn tief eingeatmet wird, senkt sich das Zwerchfell, das wiederum sämtliche Baucheingeweide, die darunter liegen, hinunterdrückt. Das ist „innere Darmmassage“, hilft dem Darm bei der Verdauungsarbeit. Beim „tief“ Ausatmen dagegen bewegt sich das Zwerchfell und damit auch alles, was darunter im Bauchraum liegt, wieder nach oben. Und dieser „Sog“ entlastet das Herz, denn so muss es den venösen Rückstrom des Bluts aus „entlegenen“ Körperregionen nicht ganz alleine bewerkstelligen. Die Tiefatmung führt weiters dazu, dass auch die unteren Teile der Lunge, die Lungenbasen, gut belüftet werden. Mit der Tiefatmung wird die Sauerstoffsättigung erhöht, kommt der Kreislauf in Schwung – und das hat Folgen für die Gesundheit: der Stoffwechsel flutscht, Organe und Gehirn werden besser durchblutet, das Gedächtnis funktioniert, die Konzentrationsfähigkeit steigt.
Singen ist Balance
Singen
bringt uns wieder in Takt, bringt das vegetative Nervensystem ins
Gleichgewicht, das gerade in unserer Zeit bei vielen Menschen aus dem
Lot ist. Das Vegetativum ist jener Teil des Nervensystems, der nicht
unserem Willen unterworfen ist, der für „autonome“ Vorgänge im Körper
wie für die Atem-, Herz- und Verdauungstätigkeit zuständig ist. Hier
sind die beiden Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus am Werk:
Der Sympathikus ist bei Aktivität, bei Leistung und Stress im Spiel, das
bedeutet: Erhöhung der Atem- und Herzfrequenz, Erhöhung des Blutdrucks –
die Symptomatiken der modernen Leistungsgesellschaft. Der Gegenspieler,
der Parasympathikus, sorgt für Beruhigung und Entspannung – kommt bei
vielen Menschen, die ständig unter Druck stehen, also viel zu selten zum
Zug. Die Folgen des Ungleichgewichts zwischen Aktivität und
Entspannung, zwischen erhöhter Sympathikusaktivität und verringertem
Parasympathikus, sind bekannt: Schlafstörungen,
Herz-Kreislauferkrankungen, Burn-out etc. Beim Singen, beim Tiefatmen
aktiviert man automatisch viele Parasympathikusanteile, der sonst so
beanspruchte Sympathikus hat Pause – die Balance ist wiederhergestellt.
Und ein Organismus, der in Balance ist, kann sich eher selbst gegen
Krankheiten wehren, die Selbstheilungskräfte funktionieren besser.
Singen ist Ausdruck
Singen
schafft auch Balance auf seelischer Ebene. Die (Un-) Summe von
Eindrücken, die wir von außen aufnehmen, muss auch wieder hinaus. Die
Folgen der Überstimulation, ebenfalls ein Problem der modernen Zeit,
sind bekannt: Der Mensch kann sie nicht mehr verkraften, verschließt
sich, zieht sich zurück, stumpft ab, verstummt oder erhöht die
Aggression. Über die Stimme und insbesondere über die Singstimme kann
man den vielen täglich aufgenommenen Eindrücken wieder Ausdruck
verleihen. Das Singen kann als Möglichkeit schlechthin gesehen werden,
um Gefühle, die nicht in Worte gefasst werden (können), loszuwerden. Man
denke nur an Klagelieder und Trauergesänge. Das sorgt für seelische
Ausgeglichenheit, mit allen positiven Konsequenzen für die seelische
Gesundheit.
Singen ist Vitalität
Singen
schafft über die Tiefatmung die Verbindung und Vitalisierung des
Beckenbereiches. Das ist der Grund, warum Singen so belebt, so fröhlich
macht, so lustvoll ist. Und das Schönste ist: All das funktioniert beim
Singen automatisch! Das richtige Atmen, das befreiende Ausbalancieren
und all die positiven Nebenerscheinungen stellen sich von selbst ein.
Natürlich kann professionelle Anleitung etwa bei der Atmung helfen, die
Ergebnisse zu verbessern und damit auch die Wirkung zu erhöhen, aber:
Die „gesundheitserregenden“ Effekte des Singens stellen sich auf jeden
Fall ein, ganz egal, ob man alleine unter der Dusche, zu zweit im Kanon
oder mit mehreren Sangeskollegen in einem Chor ein Lied anstimmt. Und es
ist auch egal, ob man falsch singt. Hauptsache, man tut es.
Der Mensch ist Musik
Univ. Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid über den Körper als Instrument und die Stimme als Ausdrucksmöglichkeit schlechthin
MEDIZIN populär:
Frau Prof. Berka-Schmid, Sie sagen, dass der Mensch Musik ist. Wie ist das zu verstehen?
Man
kann den Menschen auch anders beschreiben denn als
Körper-Geist-Seele-Wesen, das er natürlich auch ist. Nämlich als ein
Klang-Rhythmus-Melodie-Farblicht-Wesen. Warum? Wir haben uns in den in
der Natur bereits längst vorhanden gewesenen musikalischen Strukturen
entwickelt: das waren Klang, Rhythmus, Melodie – die Grundlagen für
Musik. All das war – neben dem Farblicht – bereits in der Natur da. Und
der Mensch kann nichts anderes sein als ein komprimiertes Abbild der
Natur, mit der er in Wechselwirkung steht. Also ist der Mensch Musik.
Zum Teil hört man das ja auch. Wenn Sie Ihr Ohr an die Brust legen,
hören Sie das tanzende Herz. Da ist Rhythmus, da ist Klang, aber auch
ein bisschen Melodie, man muss nur hineinhören. Wir können aber auch
nicht hörbare Funktionen im Körper hörbar machen, mit der so genannten
Sonifikation. Wir sind es nur nicht gewöhnt, weil die verwendeten
Diagnosetechniken wie EKG und andere darauf ausgerichtet sind, die
Vorgänge im Organismus nicht hörbar, sondern sichtbar zu machen.
Und wie „musiziert“ das Musikwesen Mensch?
Mit
dem Körper als seinem ursprünglichsten, ureigensten Instrument und der
Stimme als hörbarem Ergebnis dieses Instruments. Und damit steht er mit
seiner Umwelt in Wechselwirkung. Wir sind kommunikative Beziehungswesen,
so ist das halt. Wir müssen der Überfülle an Eindrücken und Gefühlen
Ausdruck verleihen, um uns in Balance zu halten. Und der gestaltete
Atem, die Stimme, die Sprech- und Singstimme, sind im Verbund mit der
Gestik die Ausdrucksmöglichkeiten schlechthin. Ich kann so viel
loswerden beim Singen, so viel Ärger, so viel Unangenehmes und
Aufgestautes. E-motio heißt ja Herausbewegen. Jede Emotion ist in einem
bestimmten Atemmuster kodiert. Wer aufgeregt ist, atmet anders als
jemand, der traurig ist. Und damit wird klar, warum es so wichtig ist,
dass wir unsere Stimme benützen, denn Sprechen und insbesondere Singen
ist ja gestaltetes, meist auch verlängertes Ausatmen. Da bewegen sich
auch unbenennbare Gefühle, Emotionen aus uns heraus.
Was sagen Sie all jenen Menschen, die glauben, nicht „musikalisch“ zu sein, nicht singen zu können?
Es
ist ganz furchtbar, wenn einem Menschen irgendwann gesagt wird: Du
singst besser nicht, du kannst das nicht! Man nimmt diesen Menschen die
Möglichkeit, über das „Per-Sonare“, das „Hindurchklingen“, zur Person zu
werden. Man schneidet ihnen den Zugang zur Freude an der eigenen
Klangerfahrung und damit an der eigenen Vitalität ab. Man reduziert mit
dem Singverbot einen Teil der menschlichen Ausdrucksfähigkeit und
Ausdrucksmöglichkeit. Das aber verändert das eigene Selbstwertgefühl und
Selbstverständnis bzw. lässt dessen notwendige Entwicklung nicht
vollständig zu. Die eigene Stimme erheben zu können, gehört zu werden,
wahrgenommen zu werden, erkannt zu werden, angenommen zu werden über den
eigenen Klang ist für uns kommunikative Beziehungswesen von
existentieller Bedeutung. Menschen, denen gesagt wurde, sie könnten
nicht singen, sollten wissen, dass es in erster Linie nicht ums Singen
geht, sondern um eine adäquate Benützung des Instrumentes Körper, um die
Klangerfahrung, die so wohltuend und heilsam ist. Und Klingen kann
jeder. Leben, Sprechen, Singen ist gestaltetes Atmen. Das tun wir alle,
aber sehr oft unzureichend für den Erhalt von Lebendigkeit und
Gesundheit. Auch Brummen oder rhythmisches Sprechen bringt
Klangerfahrungen, die zum Singen führen können. Die Anlagen sind da, wir
müssen sie nur entwickeln und etwas damit machen. Das kann man in jedem
Alter. In jedem Altersheim sollte es einen Chor geben, aber auch in
jeder Schule und jedem Kindergarten sowie in
Rehabilitationseinrichtungen.
Macht es einen Unterschied für die gesundheitsfördernde Wirkung, ob man alleine oder gemeinsam singt?
Singen
ist auf jeden Fall gut. Auch allein unter der Dusche oder zu
Tonträgern. Beim Singen in der Gemeinschaft kommt aber zur Verfeinerung
der Selbstwahrnehmung noch etwas ganz Wichtiges hinzu: die
Fremdwahrnehmung, der Dialog mit dem anderen. Denken Sie nur an das
Singen von Volksliedern, wenn eine zweite oder dritte Stimme dazugepasst
wird. Da ist plötzlich so viel Aufmerksamkeit, da werden
Sinnesqualitäten in Anspruch genommen, man lernt zu hören, zu lauschen,
den anderen wahrzunehmen, mit dem anderen in Kontakt zu treten. Das
gemeinsame Gestalten, ein Produkt schaffen und Freude haben – das ist
gerade für ältere Menschen so wichtig. Singen ist etwas Zweckfreies,
aber unglaublich Sinnvolles und Lustvolles. Leute, die regelmäßig
singen, sind oft viel länger viel gesünder. Und noch etwas: Singen ist
aktives und passives Geschehen zugleich. Wer singt, versetzt seine
Stimmbänder aktiv in Schwingung und wird von diesen Schwingungen
insgesamt in seinem körperlich-seelischen Sein wieder beschwungen. All
die Resonanzräume des Körpers, die sich mit Klängen füllen, aber auch
die Knochen schwingen – und das spürt man auch, wenn man die Hand zum
Beispiel auf den Brustkorb legt. Das heißt, ich versetze mich in
Schwingung. Und das heißt auch: Ich bin beschwingt. Und dann schauen Sie
einmal, in welchem Zustand die Menschen aus einer Chorprobe
herauskommen: total beschwingt.
Zur Person
Univ.
Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid hat Medizin und Gesang studiert, ist
Allgemeinmedizinerin, Psychotherapeutin sowie Fachärztin für Psychiatrie
und Neurologie, unterrichtet Gesang, Funktionelle Entspannung,
Körpererfahrung (Der Weg zur Psychosomatik über die Leiberfahrung. Der
Körper als Instrument) an der Universität für Musik und darstellende
Kunst in Wien und leitet neben vielen anderen Tätigkeiten die Plattform
für Interdisziplinäre Forschung am Wiener Institut für Musik und
Bewegungserziehung sowie Musiktherapie. Ihre Forschungsschwerpunkte:
Musikmedizin, Chronomedizin, Chronopädagogik, Rhythmusforschung in
Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien sowie mit anderen
universitären und pädagogischen Einrichtungen.
Quelle: www.medizinpopulaer.at