Singen ist Medizin

24. Okt 2019Barbara Zechel

Wer regelmäßig singt, bleibt länger gesund

Singen ist eine der ältesten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Die Wirkungen des Musizierens mit der eigenen Stimme auf Körper, Geist und Seele beschäftigen die Wissenschafter aber erst in jüngster Zeit. Was sie ans Licht bringen, führt unweigerlich zu dem Schluss: Regelmäßiges Singen ist so gesund, dass es eigentlich ärztlich verordnet werden sollte. Lesen Sie, warum Gesang so sinnvoll und lustvoll ist – und singen Sie!  
Von Mag. Karin Kirschbichler

Montags, nach der Chorprobe in einem Vereinslokal in Wien: Es herrscht ein quirliges Durcheinander, da und dort summt noch jemand eine Melodie. Zwei Stunden lang haben die 20 begeisterten Chorsängerinnen und -sänger ihre Stimmen erhoben. Alle 20 sind über 50 – und wirken so frisch und fröhlich, dass es eine Freude ist. Die Älteste im Sängerbunde ist 82! Man sieht es ihr nicht an: „Das Singen hält mich in Schwung“, lacht sie. „Seit ich singe, bin ich viel ausgeglichener, mehr im Einklang mit mir selbst“, erzählt eine andere. „Wenn ich singe, sind die Zipperleins, die das Älterwerden so mit sich bringt, wie weggeblasen“, freut sich eine Dritte. „Nachdem meine Frau gestorben ist“, sagt einer der wenigen Herren im Raum, „war ich oft sehr allein. Dann habe ich mich diesem Chor angeschlossen. Einsamkeit und Trübsalblasen sind für mich Fremdwörter geworden, das gemeinsame Singen tut mir richtig gut!“ Und einstimmig bekennen die Chorsänger: „Singen macht einfach Spaß!“ Freude ist die sichtbarste Nebenwirkung des Singens. Doch Gesang kann noch viel mehr: Singen ist Medizin – mit vielen erwünschten und keinen unerwünschten Nebenwirkungen. Schon seit einigen Jahren wird es im therapeutischen und klinischen Bereich angewandt. Man denke nur an Alzheimer-Patienten, die über ein ihnen bekanntes Lied plötzlich wieder Zugang zu verloren geglaubten Erinnerungen bekommen. Oder an Schlaganfall-Patienten, die über den Gesang zum Sprechen zurückfinden. Was den wenigsten bewusst ist: Singen ist Vorsorgemedizin, hilft bei der Gesunderhaltung von Körper, Geist und Seele.

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Foto: Ivana Cajina/unsplash.com

Regelmäßiges Singen

  • unterstützt die Atemtätigkeit
  • stärkt das Herz
  • kurbelt die Darmaktivität an
  • bringt den Kreislauf in Schwung
  • reguliert den Blutdruck
  • erhöht die Sauerstoffsättigung im Blut
  • regt die Selbstheilungskräfte an
  • löst Verspannungen
  • sorgt für Ausgeglichenheit
  • baut Aggressionen ab
  • vertreibt Ärger und Stresssymptome
  • hebt die Stimmung
  • weckt die Lebensgeister
  • hält das Gedächtnis in Schuss
  • fördert die Konzentrationsfähigkeit
  • macht kontaktfreudiger und selbstbewusster

Das ist beachtlich. Wie geht das? Im Wesentlichen muss man dazu nur A und B sagen, nämlich Atmung und Balance.

Singen ist Atmen

Genauer genommen: Singen ist gestaltetes Atmen, sagt Univ. Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid (siehe Interview). Wer singt, verlängert die Zeit des Ausatmens (damit der Ton gehalten werden kann) und variiert die Zeit des Einatmens (je nachdem, ob ein schnelles oder langsames Stück gesungen wird). Wer singt, benützt automatisch die gesunde Bauch-Flanken- bzw. Tiefatmung statt der Brust- bzw. Hochatmung. Und da tut sich einiges: Wenn tief eingeatmet wird, senkt sich das Zwerchfell, das wiederum sämtliche Baucheingeweide, die darunter liegen, hinunterdrückt. Das ist „innere Darmmassage“, hilft dem Darm bei der Verdauungsarbeit. Beim „tief“ Ausatmen dagegen bewegt sich das Zwerchfell und damit auch alles, was darunter im Bauchraum liegt, wieder nach oben. Und dieser „Sog“ entlastet das Herz, denn so muss es den venösen Rückstrom des Bluts aus „entlegenen“ Körperregionen nicht ganz alleine bewerkstelligen. Die Tiefatmung führt weiters dazu, dass auch die unteren Teile der Lunge, die Lungenbasen, gut belüftet werden. Mit der Tiefatmung wird die Sauerstoffsättigung erhöht, kommt der Kreislauf in Schwung – und das hat Folgen für die Gesundheit: der Stoffwechsel flutscht, Organe und Gehirn werden besser durchblutet, das Gedächtnis funktioniert, die Konzentrationsfähigkeit steigt.

Singen ist Balance
Singen bringt uns wieder in Takt, bringt das vegetative Nervensystem ins Gleichgewicht, das gerade in unserer Zeit bei vielen Menschen aus dem Lot ist. Das Vegetativum ist jener Teil des Nervensystems, der nicht unserem Willen unterworfen ist, der für „autonome“ Vorgänge im Körper wie für die Atem-, Herz- und Verdauungstätigkeit zuständig ist. Hier sind die beiden Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus am Werk: Der Sympathikus ist bei Aktivität, bei Leistung und Stress im Spiel, das bedeutet: Erhöhung der Atem- und Herzfrequenz, Erhöhung des Blutdrucks – die Symptomatiken der modernen Leistungsgesellschaft. Der Gegenspieler, der Parasympathikus, sorgt für Beruhigung und Entspannung – kommt bei vielen Menschen, die ständig unter Druck stehen, also viel zu selten zum Zug. Die Folgen des Ungleichgewichts zwischen Aktivität und Entspannung, zwischen erhöhter Sympathikusaktivität und verringertem Parasympathikus, sind bekannt: Schlafstörungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Burn-out etc. Beim Singen, beim Tiefatmen aktiviert man automatisch viele Parasympathikusanteile, der sonst so beanspruchte Sympathikus hat Pause – die Balance ist wiederhergestellt. Und ein Organismus, der in Balance ist, kann sich eher selbst gegen Krankheiten wehren, die Selbstheilungskräfte funktionieren besser.

Singen ist Ausdruck
Singen schafft auch Balance auf seelischer Ebene. Die (Un-) Summe von Eindrücken, die wir von außen aufnehmen, muss auch wieder hinaus. Die Folgen der Überstimulation, ebenfalls ein Problem der modernen Zeit, sind bekannt: Der Mensch kann sie nicht mehr verkraften, verschließt sich, zieht sich zurück, stumpft ab, verstummt oder erhöht die Aggression. Über die Stimme und insbesondere über die Singstimme kann man den vielen täglich aufgenommenen Eindrücken wieder Ausdruck verleihen. Das Singen kann als Möglichkeit schlechthin gesehen werden, um Gefühle, die nicht in Worte gefasst werden (können), loszuwerden. Man denke nur an Klagelieder und Trauergesänge. Das sorgt für seelische Ausgeglichenheit, mit allen positiven Konsequenzen für die seelische Gesundheit.

Singen ist Vitalität
Singen schafft über die Tiefatmung die Verbindung und Vitalisierung des Beckenbereiches. Das ist der Grund, warum Singen so belebt, so fröhlich macht, so lustvoll ist. Und das Schönste ist: All das funktioniert beim Singen automatisch! Das richtige Atmen, das befreiende Ausbalancieren und all die positiven Nebenerscheinungen stellen sich von selbst ein. Natürlich kann professionelle Anleitung etwa bei der Atmung helfen, die Ergebnisse zu verbessern und damit auch die Wirkung zu erhöhen, aber: Die „gesundheitserregenden“ Effekte des Singens stellen sich auf jeden Fall ein, ganz egal, ob man alleine unter der Dusche, zu zweit im Kanon oder mit mehreren Sangeskollegen in einem Chor ein Lied anstimmt. Und es ist auch egal, ob man falsch singt. Hauptsache, man tut es.


INTERVIEW


Der Mensch ist Musik
Univ. Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid über den Körper als Instrument und die Stimme als Ausdrucksmöglichkeit schlechthin

MEDIZIN populär:
Frau Prof. Berka-Schmid, Sie sagen, dass der Mensch Musik ist. Wie ist das zu verstehen?
Man kann den Menschen auch anders beschreiben denn als Körper-Geist-Seele-Wesen, das er natürlich auch ist. Nämlich als ein Klang-Rhythmus-Melodie-Farblicht-Wesen. Warum? Wir haben uns in den in der Natur bereits längst vorhanden gewesenen musikalischen Strukturen entwickelt: das waren Klang, Rhythmus, Melodie – die Grundlagen für Musik. All das war – neben dem Farblicht – bereits in der Natur da. Und der Mensch kann nichts anderes sein als ein komprimiertes Abbild der Natur, mit der er in Wechselwirkung steht. Also ist der Mensch Musik. Zum Teil hört man das ja auch. Wenn Sie Ihr Ohr an die Brust legen, hören Sie das tanzende Herz. Da ist Rhythmus, da ist Klang, aber auch ein bisschen Melodie, man muss nur hineinhören. Wir können aber auch nicht hörbare Funktionen im Körper hörbar machen, mit der so genannten Sonifikation. Wir sind es nur nicht gewöhnt, weil die verwendeten Diagnosetechniken wie EKG und andere darauf ausgerichtet sind, die Vorgänge im Organismus nicht hörbar, sondern sichtbar zu machen.

Und wie „musiziert“ das Musikwesen Mensch?
Mit dem Körper als seinem ursprünglichsten, ureigensten Instrument und der Stimme als hörbarem Ergebnis dieses Instruments. Und damit steht er mit seiner Umwelt in Wechselwirkung. Wir sind kommunikative Beziehungswesen, so ist das halt. Wir müssen der Überfülle an Eindrücken und Gefühlen Ausdruck verleihen, um uns in Balance zu halten. Und der gestaltete Atem, die Stimme, die Sprech- und Singstimme, sind im Verbund mit der Gestik die Ausdrucksmöglichkeiten schlechthin. Ich kann so viel loswerden beim Singen, so viel Ärger, so viel Unangenehmes und Aufgestautes. E-motio heißt ja Herausbewegen. Jede Emotion ist in einem bestimmten Atemmuster kodiert. Wer aufgeregt ist, atmet anders als jemand, der traurig ist. Und damit wird klar, warum es so wichtig ist, dass wir unsere Stimme benützen, denn Sprechen und insbesondere Singen ist ja gestaltetes, meist auch verlängertes Ausatmen. Da bewegen sich auch unbenennbare Gefühle, Emotionen aus uns heraus.

Was sagen Sie all jenen Menschen, die glauben, nicht „musikalisch“ zu sein, nicht singen zu können?
Es ist ganz furchtbar, wenn einem Menschen irgendwann gesagt wird: Du singst besser nicht, du kannst das nicht! Man nimmt diesen Menschen die Möglichkeit, über das „Per-Sonare“, das „Hindurchklingen“, zur Person zu werden. Man schneidet ihnen den Zugang zur Freude an der eigenen Klangerfahrung und damit an der eigenen Vitalität ab. Man reduziert mit dem Singverbot einen Teil der menschlichen Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksmöglichkeit. Das aber verändert das eigene Selbstwertgefühl und Selbstverständnis bzw. lässt dessen notwendige Entwicklung nicht vollständig zu. Die eigene Stimme erheben zu können, gehört zu werden, wahrgenommen zu werden, erkannt zu werden, angenommen zu werden über den eigenen Klang ist für uns kommunikative Beziehungswesen von existentieller Bedeutung. Menschen, denen gesagt wurde, sie könnten nicht singen, sollten wissen, dass es in erster Linie nicht ums Singen geht, sondern um eine adäquate Benützung des Instrumentes Körper, um die Klangerfahrung, die so wohltuend und heilsam ist. Und Klingen kann jeder. Leben, Sprechen, Singen ist gestaltetes Atmen. Das tun wir alle, aber sehr oft unzureichend für den Erhalt von Lebendigkeit und Gesundheit. Auch Brummen oder rhythmisches Sprechen bringt Klangerfahrungen, die zum Singen führen können. Die Anlagen sind da, wir müssen sie nur entwickeln und etwas damit machen. Das kann man in jedem Alter. In jedem Altersheim sollte es einen Chor geben, aber auch in jeder Schule und jedem Kindergarten sowie in Rehabilitationseinrichtungen.

Macht es einen Unterschied für die gesundheitsfördernde Wirkung, ob man alleine oder gemeinsam singt?
Singen ist auf jeden Fall gut. Auch allein unter der Dusche oder zu Tonträgern. Beim Singen in der Gemeinschaft kommt aber zur Verfeinerung der Selbstwahrnehmung noch etwas ganz Wichtiges hinzu: die Fremdwahrnehmung, der Dialog mit dem anderen. Denken Sie nur an das Singen von Volksliedern, wenn eine zweite oder dritte Stimme dazugepasst wird. Da ist plötzlich so viel Aufmerksamkeit, da werden Sinnesqualitäten in Anspruch genommen, man lernt zu hören, zu lauschen, den anderen wahrzunehmen, mit dem anderen in Kontakt zu treten. Das gemeinsame Gestalten, ein Produkt schaffen und Freude haben – das ist gerade für ältere Menschen so wichtig. Singen ist etwas Zweckfreies, aber unglaublich Sinnvolles und Lustvolles. Leute, die regelmäßig singen, sind oft viel länger viel gesünder. Und noch etwas: Singen ist aktives und passives Geschehen zugleich. Wer singt, versetzt seine Stimmbänder aktiv in Schwingung und wird von diesen Schwingungen insgesamt in seinem körperlich-seelischen Sein wieder beschwungen. All die Resonanzräume des Körpers, die sich mit Klängen füllen, aber auch die Knochen schwingen – und das spürt man auch, wenn man die Hand zum Beispiel auf den Brustkorb legt. Das heißt, ich versetze mich in Schwingung. Und das heißt auch: Ich bin beschwingt. Und dann schauen Sie einmal, in welchem Zustand die Menschen aus einer Chorprobe herauskommen: total beschwingt.

Zur Person
Univ. Prof. Dr. Gertraud Berka-Schmid hat Medizin und Gesang studiert, ist Allgemeinmedizinerin, Psychotherapeutin sowie Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, unterrichtet Gesang, Funktionelle Entspannung, Körpererfahrung (Der Weg zur Psychosomatik über die Leiberfahrung. Der Körper als Instrument) an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien und leitet neben vielen anderen Tätigkeiten die Plattform für Interdisziplinäre Forschung am Wiener Institut für Musik und Bewegungserziehung sowie Musiktherapie. Ihre Forschungsschwerpunkte: Musikmedizin, Chronomedizin, Chronopädagogik, Rhythmusforschung in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien sowie mit anderen universitären und pädagogischen Einrichtungen.


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